Das Unsichtbare im Taekwondo – und warum es mein Leben prägt

Sechzehn Jahre sind vergangen, seit ich zum ersten Mal den Dojang betrat. Sechzehn Jahre, die mich gelehrt haben, dass Taekwondo weit mehr ist als das Erlernen von Techniken. Es ist ein Weg. Das „Do“ ist nicht ein Anhängsel im Namen, sondern der Kern – eine Richtung, die über den Trainingsraum hinausweist, mitten hinein ins Leben.

Taekwondo - Do ist mein Leben
Erste Prüfung mit Bruchtest, 2009

General Choi Hong Hi hat Taekwondo nicht nur als Kampfkunst strukturiert, sondern auch als Wertekanon: Höflichkeit, Integrität, Durchhaltevermögen, Selbstbeherrschung, unbeugsamer Geist. Diese Prinzipien sind wie Laternen am Weg. Sie geben Orientierung, gerade dann, wenn der Weg steinig oder dunkel erscheint. Wer sie nur als Wörter aufsagt, hat nichts gewonnen. Wer sie lebt, findet Haltung. Und Haltung trägt – im Training ebenso wie im Alltag.

„Es gibt viele verschiedene Menschen“ (Kwon Jae-Hwa, 2013)

Besonders prägend war für mich ein Satz von Meister Kwon Jae-Hwa: „Es gibt viele verschiedene Menschen.“ Er sprach ihn in einem Moment, in dem andere vielleicht mit Ärger reagiert hätten. Doch er entschied sich für eine Haltung des Respekts. Dieser Satz begleitet mich bis heute. Er erinnert mich daran, Menschen in ihrer Vielfalt nicht nur auszuhalten, sondern willkommen zu heißen. Im Training bedeutet das, jedem Schüler mit Offenheit zu begegnen: den Lauten, die ihre Kraft lautstark präsentieren, ebenso wie den Stillen, deren Mut schon im ersten Schritt über die Türschwelle liegt. Im Leben bedeutet es, jedem Menschen mit derselben Aufmerksamkeit zu begegnen – ohne Schablonen, ohne vorschnelles Urteil.

Das „Do“ ist nicht spektakulär. Es zeigt sich in den kleinen Momenten: im aufrechten Gruß, in der Geduld beim Wiederholen einer Technik, im Zuhören. Es ist die stille Kraft, die auch dann trägt, wenn die Tritte wackeln und die Formen ungenau werden. Wer das „Do“ ernst nimmt, übt nicht nur Bewegungen, sondern die Kunst, die eigene Haltung zu formen. Und genau das ist die eigentliche Disziplin.

Manchmal spüre ich, wie sehr sich das „Do“ dem Zen annähert. Im Zen liegt die Wahrheit oft in der Einfachheit, im Atem, in der Stille zwischen zwei Gedanken. Auch im Taekwondo entsteht die Entscheidung im Moment zwischen Ein- und Ausatmen. Dieser Zwischenraum, so unscheinbar er wirkt, ist die Quelle von Klarheit. Dort entsteht der Unterschied zwischen Reiz und Reaktion, zwischen Reflex und Wahl. Wer das versteht, erkennt: Stärke beginnt nicht im Schlag, sondern im Innehalten davor.

Taekwondo lehrt: Fortschritt heißt Dranbleiben

Sechzehn Jahre auf diesem Weg lehren auch, dass Fortschritt selten linear ist. Es gibt Tage, da fließt der Tritt mühelos, und am nächsten stolpert man über die gleiche Bewegung. Geduld mit sich selbst ist deshalb genauso wichtig wie Konsequenz. In Wahrheit zeigt sich Fortschritt nicht im Perfekten, sondern im Dranbleiben. Im zweiten Versuch, der ruhiger, sauberer, besser gelingt. Das ist die stille Botschaft des Do: nicht alles sofort, aber alles mit Hingabe.

Das Training erinnert mich auch daran, dass Grenzen ein Teil der Stärke sind. Nicht jede Technik passt in jeden Moment, nicht jede Kraft braucht den vollen Einsatz. Distanzgefühl, Zurückhaltung, Respekt vor dem Gegenüber – all das ist Ausdruck des Do. Es bewahrt davor, blind in jede Auseinandersetzung zu stürmen. Es lehrt, dass Zurückhaltung nicht Schwäche ist, sondern Klugheit. Wer Maß halten kann, bleibt frei.

Als Trainer versuche ich, das Do nicht zu lehren, sondern vorzuleben. Ich möchte, dass jeder, der in den Dojang kommt, sich gesehen fühlt. Dass er spürt: Hier ist ein Raum, in dem du sein darfst, wie du bist – und wachsen kannst. Wer mehr geben möchte, dem öffne ich Möglichkeiten. Wer heute nur ankommen kann, erhält dafür Respekt. Förderung heißt nicht, alle gleich zu behandeln, sondern jedem den Raum zu geben, den er braucht.

Geschichte und Gegenwart verbinden sich in diesem Weg. Choi Hong Hi nahm verschiedene Einflüsse auf, gab ihnen Struktur, und schuf damit nicht nur eine Kampfkunst, sondern ein Instrument, das Menschen formt. Diese Struktur ist klar, doch sie ist kein starres Korsett. Sie lässt Raum für Entwicklung, für Eigenes, für Menschliches. Das macht Taekwondo so lebendig.

Manchmal fragen mich Menschen: Ist das Do wirklich etwas Greifbares, oder nur eine schöne Idee? Ich antworte mit einer einfachen Beobachtung: Jemand stolpert bei einer Technik, ärgert sich, atmet – und versucht es erneut. Diesmal ruhiger, aufmerksamer, klarer. In diesem zweiten Versuch liegt das Do. Es ist keine Vollkommenheit, sondern eine Haltung. Eine Art, mit Fehlern umzugehen, ohne sich entmutigen zu lassen.

Fehlerfähigkeit statt Fehlerlosigkeit – Lektionen des Taekwondo

Sechzehn Jahre später bin ich dankbar, diesen Weg gefunden zu haben. Er hat mich nicht fehlerlos gemacht, sondern fehlerfähig – in dem Sinne, aus jedem Fehler eine neue Möglichkeit zu machen. Das Do hat mir beigebracht, dass wahre Stärke nicht laut sein muss. Dass Höflichkeit eine Kraft ist. Dass Durchhaltevermögen oft leiser klingt als Jubel – und doch länger trägt.

Vielleicht ist das die größte Erkenntnis: Das Do endet nicht am Hallenboden. Es fließt in Gespräche, in Begegnungen, in den Blick auf die Welt. Es ist kein abgeschlossenes Kapitel, sondern eine fortlaufende Einladung. Eine Einladung, den Weg nicht nur zu gehen, sondern ihn bewusst zu gehen.

Sechzehn Jahre später weiß ich: Der Weg des Do ist nicht nur mein Weg im Taekwondo. Er ist mein Weg im Leben.

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